10.
Inzwischen werden Sie Neil Morelli vergessen haben. Warum auch nicht? Genauso erging es ja auch einigen Millionen Menschen, die ihn einmal kurz in seinem bisher einzigen Satirespot gesehen hatten.
Ich, Laura Richie, habe Neil vor seinem Auftritt in der Show interviewt. Er segelte auf einer rosaroten Erfolgswolke und benahm sich so aufgeblasen wie die meisten Schauspieler, die ich kennengelernt habe. Er redete abfällig über Kollegen, fuhr ein teures Auto, hatte ein Verhältnis mit seiner Partnerin auf der Bühne, einer blonden Sexbombe, die jede Zeile ihres Textes mühsam eingetrichtert bekam.
An der Show ließ sich nichts aussetzen. Das Konzept war witzig, und brachte Lacher. Es ging um einen verrückten Astrologen, der das Vertrauen des Präsidenten der Vereinigten Staaten gewonnen hat und prompt auf den neu geschaffenen Kabinettsposten eines »Ministers für Astrologie« gehievt wird. Die Show wäre ein absoluter Renner gewesen, hätten es die Autoren verstanden, die Pointen richtig zu setzen. Das schafften sie nicht. Neil wußte, daß er es besser gemacht hätte. Tatsächlich hatte er seine Texte geschrieben und Verbesserungen vorgeschlagen. Doch die las niemand. Und niemand hörte ihm zu. Die Textschreiber stammten aus Ortis' Gruppe. Durchweg Versager. Doch Ortis war auch Neils Agent.
Neil war über den Kopf des Direktors direkt zum Produzenten gegangen und hatte ihm einige seiner Textänderungen gezeigt. Das war sicher wenig diplomatisch gewesen. Neil hatte einfach versucht, sein Leichtgewicht in die Waagschale zu werfen. Doch der Produzent hatte getobt.
»Raus aus meinem Büro!« hatte er geschrien und ihm die Seiten an den Kopf geworfen. »Ich treffe hier die Entscheidungen, nicht Sie. Von Ihrer Sorte gibt es hunderte. lch brauche Sie nicht. Wenn Sie nicht tun, was ich verlange, brauchen Sie sich hier nicht mehr sehen zu lassen.
Das hatte Neil zu Tode geängstigt. Er hatte doch der Star dieser kleinen Show sein sollen! Warum wurde er nicht als Star behandelt? Er war davon ausgegangen, daß er endlich Erfolg haben würde, endlich Achtung erwarten durfte, vielleicht sogar Einfluß. Nun zitterte er vor der Zukunft.
Doch der Text war miserabel, der Präsident ein lausiger Schauspieler, die First Lady eine dumme Kuh, die ständig patzte. Sie verdarb auch Neil die Rolle. Wenn sie mit dieser Rolle auf die Nase fiel, würde sie einfach mit einem anderen Mann schlafen und ihre nächste Rolle bekommen. Mit Neil stand das anders. Wohin sollte er gehen, wenn er hier einen Reinfall erlebte?
Neil wußte, daß es hier um Sein oder Nichtsein ging. Vielleicht hätte er wirklich Sy Ortis' Sekretärin nicht anbrüllen sollen. Vielleicht hätte er nicht mit dem unbedeutenden Agenten in Sys Büro sprechen sollen. Alles Fehler.
Ich habe darüber schon in meiner Kolumne geschrieben. Doch an sich ist das alles keine große Sache. Jährlich werden weit über vierhundert Pilotsendungen gemacht. Nur zwei Dutzend gehen in Serie. Und von diesen halten sich auch nur ein oder zwei länger als ein Jahr. Neil durfte also nur von einer statistischen Wahrscheinlichkeit ausgehen.
Veränderungen sind Scheiße. Zugegeben, nicht alle. Man gewöhnt sich mühelos an ein Haus an der Küste, an einen BMW, an eine Haushälterin, die sich um Wäsche und Mahlzeiten kümmert. Damit wird man auch nach einem entbehrungsreichen Leben spielend fertig. Neil Morelli stellte das vor keinerlei Probleme. Er nahm die Vorteile hin, als sei er mit ihnen geboren worden.
Anders verhält sich das mit Veränderungen, die Neil in den vergangenen Monaten hatte bewältigen müssen. Seine Show war abgesetzt worden. Er mußte sich wieder an eine kleine Wohnung in Encino gewöhnen, an schmutzige Wäsche, um die er sich selbst zu kümmern hatte, und an einen Aushilfsjob.
Eine Scheißsklavenarbeit für idiotische Chefs — und das Ganze für ein Trinkgeld! Neil Morelli kam nach seinem kurzen Entertainment in einem Lokal müde und deprimiert in seine Wohnung. Daß seine Show abgesetzt wurde, hatte ihn noch nicht einmal sonderlich überrascht. Er hatte ja von Anfang an gesagt, daß die Texte schlecht waren, die Texter viertklassig.
Doch sein Wissen um das Versagen hatte ihn nicht auf die verheerenden Folgen vorbereitet. In den ersten Wochen danach verbrachte Neil die meiste Zeit am Telefon und sprach mit jedem, der ihm in Ortis' Büro zuhören wollte. Schließlich erhielt er die unvermeidliche Antwort: »Rufen Sie uns bitte nicht mehr an. Sie erhalten von uns Bescheid.« Der große Sy Ortis sprach überhaupt nicht mit ihm. Kein einziges Mal.
Wie stets, versuchte Neil auch jetzt, über sich selbst zu lachen und auf die Weise damit fertigzuwerden. Doch diesmal half es nicht. Es gab keine Mary Jane mehr, die mit ihm lachen konnte. Neil wurde zunehmend isoliert und träge. Er wußte, daß er sich aufraffen mußte. Sein Geld ging zur Neige. Er hatte keine Pläne, sein Agent hatte ihn fallengelassen. Nach New York wollte er nicht mit eingeklemmten Schwanz zurück. Darum machte er das einzige, von dem er etwas verstand. Er arbeitete an Texten für neue Auftritte. Schrieb und verbesserte. Doch es ist nicht leicht, witzig zu sein, wenn man sich wie Dreck aus der Gosse fühlt.
Von einem Tag zum anderen vollzog sich der Wechsel von Malibu nach Encino, von einem geleasten BMW zu einem gebrauchten Honda, von einer Titelrolle in einer TV-Serie zu der Lohnarbeit eines Kellners in einem Clublokal. Er warf sich auf seine Schlafcouch, die er auch tagsüber nicht zusammenklappte. Es gab niemanden, der ihm zur Seite stand, dagegen genügend, die hämisch über ihn grinsten. Sogar seine Schwester Brenda würde ihm nur kurzfristig mit Geld aushelfen können und ihm raten, zurückzukommen. Er schämte sich entsetzlich. In der nächtlichen Stille dachte er, wie so oft, an Mary Jane. Sie würde ihn verstehen, ihn trösten. Sonst verstand ihn niemand, allerdings fand er auch keinen Zugang zu den Menschen.
Als er wenige Monate nach seiner Ankunft in L.A. versucht hatte, Mary Jane telefonisch zu erreichen, mußte er feststellen, daß ihr Telefon abgemeldet worden war. Die Karten, die er schrieb, kamen zurück. Sie war ausgezogen und hatte keine Nachsendeadresse hinterlassen. Neil vermißte sie. Jetzt in der Stunde seines Elends noch mehr als damals bei seinem Erfolg.
Er zog die Hose aus und ging in das, was sein Hauswirt als Küche bezeichnete, diesen Namen aber nicht verdiente. Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und stellte den Warmwasserhahn in der Dusche an. Darauf wenigstens konnte man sich verlassen. Nach genau zehn Minuten lief das Wasser endlich warm. Neil begrüßte die Nacht. Er hoffte, schlafen zu können, bevor das Tageslicht ins Zimmer fiel und die ganze schäbige Umgebung, die das Dunkel jetzt gnädig verbarg, deutlich machte.
Er kannte die ausgetretene Stelle in dem Acrylteppich, obwohl er es für unmöglich gehalten hatte, daß man einen Acrylteppich abnützen könnte. Über dem Ausguss in der Küche war die Mauer aufgerissen. Der Schaden stammte von einem undichten Wasserrohr in der Wohnung über Neil. Der Herd war von eingebranntem Fett verkrustet. Über allem hing der Geruch nach Verfall. Neil sog tief das Bieraroma ein. Das wenigstens roch gut.
Später lag er wieder auf dem Bett. Er wurde schläfrig, glaubte schon, einschlafen zu können. Doch da hörte er sie wieder. Die Worte schienen über sein linkes Ohr einzudringen, seine Gehirnzellen zu durchbohren und sein Rückgrat zu erschüttern. Er hörte seine eigenen Worte, die er am Abend als seine Entertainment-Einlage gebracht hatte. Er mußte sie noch einmal hören, obwohl er das nicht wollte.
So ging das schon seit Monaten. Jeden Abend ging er zur Arbeit, bediente als Kellner, wartete auf seinen Auftritt, die letzte von drei Nummern an jedem Abend. Dann kam er zurück zu seiner Wohnung, duschte, ging zu Bett, und bevor er einschlafen konnte, wiederholte er den ganzen Text. Die Worte kreisten in seinem Kopf. Pausenlos. Manchmal konnte Neil verhältnismäßig ungestört einschlafen. Doch meist schrie er im Halbschlaf. Dann stand er auf, schrieb seinen Text um, bis er glaubte, eine bessere Formulierung gefunden zu haben, fügte etwas hinzu, strich etwas anderes aus. Einige Stunden schlief er, bis es wieder Zeit zum Kellner wurde.
An diesem Abend hatte er eine gute Kritik bekommen. Er hatte etwas über Hollywood-Agenten eingefügt und hörte noch jetzt, wie die Gäste schallend lachten. Nach einer monatelangen Durststrecke hatte er einen guten Aufhänger gefunden. Daran konnte er feilen. Er glaubte an eine zweite Chance, glaubte, bald dieses grässliche Encino verlassen zu können.